„Übermorgen ist am Song-Kul ein Nomaden-Festival“, bemerke ich nach einem Blick auf die Homepage der kirgisischen Ökotourismusorganisation Community Based Tourism. Der Song-Kul liegt mit rund 3.000 Metern noch ein ganzes Stück höher als der Issyk-Kul. Bodenfrost gibt es hier fast das ganze Jahr. In den wenigen warmen Sommermonaten lassen sich an seinen Ufern Halbnomaden nieder. Ihre Pferde-, Schaf- und Kuhherden weiden hier, bis die Familie vor Einbruch des Winters wieder in ihre tiefer gelegenen Domizile wandert. Das Festival begleitet den Abzug einer Nomadenfamilie mit Reiterspielen, Musik, Abbau einer Jurte, Packen der Kamele, Zusammentreiben der Herde, Abzug der Familie. So lockt das Programm. Eintritt: 650 Com (11,20 €) inklusive Mittagessen.
Wir sitzen in der Sonne am Strand des Issyk-Kul. Neben mir schmöckert Haimo in einem Reiseführer. Ihn und seine Frau Mariolein hatten wir schon im Ile-Alatau-Nationalpark getroffen. „Das wäre schon interessant“, meint er. Aber der Song-Kul ist auch mal eben 250 Kilometer entfernt. Auf hiesigen Straßen inklusive eines 3.300-Meter-Passes für unser Gespann kein Pappenstiel. Da wird wohl ein ganzer Tag bei draufgehen…. Aber wenn wir schon mal in der Nähe sind, sollten wir so eine Gelegenheit mitnehmen. Der Gedanke ist kaum ausgedacht, als ein roter Pick-up auf uns zukommt und einige Meter vor uns parkt. Drin sitzen Mustafa, seine Frau Petra und ihr fünfjähriger Sohn Jonas aus dem Allgäu. Sie haben spontan ihre Kirgistan-Reisepläne umgeworfen, weil sie von einem Festival am Song-Kul gehört haben… da wollen sie jetzt hin.
Okay. Wir sind dabei. Am Samstag – dem Tag vor dem Festival – fährt die Familie aus dem Allgäu schon mal vor. Mariolein, Haimo, Karsten und ich lassen uns ein wenig mehr Zeit: Ein Bad im See, Frühstück, Benzin und Wasser tanken, einkaufen. Wir sind keine 50 Kilometer gefahren, als Mariolein vorschlägt: „Wollen wir vielleicht noch den Salz-See anschauen?“ Dieser kleine See liegt neben dem Issyk-Kul und ist so salzig, dass man sich wie im toten Meer darauf treiben lassen kann. Karsten und ich hatten auf dem Hinweg darauf verzichtet, weil eine zwölf Kilometer lange Huckelpiste zwischen Straße und See liegt. Mit unserem Gespann kaum zu bewältigen. Aber mit ihrem Mitsubishi L300 Allrad kein Problem. Wir lassen das Gespann in der Nähe der Straße stehen und fahren zu fünft mit dem Offroad-Wunder. Fast eine Stunde brauchen wir trotzdem. Am Salzsee überrascht eine intakte touristische Infrastruktur: Jurten mit Restaurants, Einkaufsläden, Übernachtungsmöglichkeiten, Massagen und Schlammpackungen. Das Salzsee-Erlebnis macht uns allen viel Spaß. Lediglich der wasserscheue Loukas liegt zerknirscht unter dem Auto und hofft inständig, dass nicht irgendwer auf die blöde Idee kommt, ihn reinzuwerfen.
Knapp zwei Stunden später sitzen wir wieder in unserem Bus. Es ist bereits früher Nachmittag und wir haben noch 200 Kilometer und zwei Pässe vor uns. Die Straßen werden schlechter. 100 Kilometer vor dem Song-Kul gibt es nur noch Schotterpisten. Der erste Pass ist noch nicht ganz so hoch, aber doch an einer Stelle so steil, dass der Bus schlapp macht. Haimo schlägt vor, dass er unseren Hänger nimmt. Aber Karsten will es nochmal versuchen. Er schaltet auf Autogas um (wir fahren trotz schlechterer Leistung in Kirgistan auf Benzin, weil wir noch keine Gas-Tankstelle entdeckt haben) und versucht die Steigung im ersten Gang. Der Bus kriegt die Kurve und auf dem Pass werden wir mit einem wunderschönen Sonnenuntergang belohnt. Bergab geht es einfacher. Doch plötzlich rutscht der Bus auf dem Schotter und Karsten kann nicht mehr lenken. Das Rad vorne links hat sich quer gestellt. Bei einer Reparatur in Baikonur haben die Mechaniker offensichtlich die Mutter an der Spurstange nicht richtig festgezogen, so dass sie nun rausgerutscht ist. Karsten repariert ad hoc und weiter geht´s. Mariolein und Haimo witzeln: „Na, mit euch unterwegs zu sein ist ja richtig abenteuerlich“. Heute schaffen wir es nicht mehr bis zum Song-Kul. Nach Einbruch der Dunkelheit zu fahren ist hier einfach zu gefährlich. 80 Kilometer vor unserem Ziel finden wir einen hübschen Standplatz auf einer Wiese neben einem kleinen Fluss.
Am Festival-Morgen brechen wir zeitig auf. Schon am Fuße des 3.300-Meter-Passes vor dem See kann unser Gespann nicht mehr. Die Straße ist definitiv zu steil. Haimo bietet wieder an, den Hänger zu nehmen. Diesmal nehmen wir sein Angebot an. Selbst ohne Hänger läuft der Bus im ersten Gang an seinen Grenzen. Auf der Passstraße treffen wir auf einen liegengebliebenen Lada. Der Bitte des Fahrers, ihn abzuschleppen, können wir bei bestem Willen nicht nachkommen.
Als wir den Gipfel des Passes erreichen, feiern wir. Danach geht es leichtfüßig weiter. Lediglich die Oberfläche der Piste ist weiter anstrengend: Es ruckelt ordentlich, feiner Staub kommt durch jede Ritze und legt sich wie ein Schleier auf Mensch und Inventar. Wir sehen die ersten Nomadenfamilien auf der weiten Grasfläche siedeln. Aus ihren Jurten qualmen die Rauchabzüge. Viele Nomaden nehmen mittlerweile Touristen in ihren Jurten auf. Das Hotel bleibt jedoch einzigartig.
Zwei europäisch aussehende Mädels stehen am Weg und winken. Silke aus Österreich und ihre Freundin aus Frankreich möchten auch zum Festival, dorthin sind es aber noch schlappe 40 Kilometer um den See herum. Weil unser LT mehr Platz bietet als der Mitsubishi, nehmen wir sie mit. Die beiden reisen allein. Sind mit dem Rucksack, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und per Anhalter unterwegs. In China haben sie sich kennengelernt und reisen jetzt eine Weile gemeinsam.
Gegen 11 Uhr erreichen wir das Festival. Wir sehen ein paar Jurten, Pferde und Reiter, Kinder in Trachten und etwa 150 Touristen. Mit bunter Outdoor-Kleidung, Kopftücher und Käppis, mit Kameras und schweren Teleobjektiven passen sie in dieses Szenario wie ein Flusskrebs in die Wüste. Wir sehen das Reisemobil von Mustafa und Petra und parken daneben. Jetzt wird es etwas turbulent. Die geschäftstüchtige Familienmutti kommt und kassiert den Eintritt. Mustafa, Petra und Jonas begrüßen uns. Überall wirbeln Leute um uns herum. Die Reiterspiele haben schon begonnen. Wir sehen Colette und Michel aus Frankreich, die wir kurz nach der Grenzüberfahrt in Kirgistan zum ersten Mal getroffen haben.
Die Reiterspiele sind spannend, brutal, ernst gemeint. Die Regel: Es gibt zwei Teams. Jedes Team besteht aus zwei Reitern. Ein totes Schaf wird auf in einer Distanz von etwa 50 Metern auf den Boden gelegt. Auf Kommando reiten die Spieler los, ergreifen das tote Schaf, ringen darum. Gerten klatschen, Pferdekörper krachen gegeneinander, Hufen poltern. Die Gesichter der Spieler sind angestrengt und konzentriert. Es gewinnt das Team, das das Schaf ins Ziel bringt. Die Reiterspiele animieren zur Nachahmung. Ein kirgisischer Junge spielt Pferdchen mit Loukas. Dann findet Loukas ein gleichgesinntes Nomadenwelpen. Ihr inniges Spiel lenkt die Aufmerksamkeit der europäischen Touristen kurzzeitig von den Reiterspielen ab. Loukas wird „der bunte Hund“ des Festivals. Kaum jemand kennt nicht seinen Namen. Einen Tag später werden wir Radtouristen treffen die uns begrüßen mit „we know Loukas!“. Und im CBT-Büro von Kočkor, etwa 100 Kilometer entfernt, wird uns ein Franzose ansprechen mit den Worten: „Oh, this ist the famous greek dog from the festival in Song-Kul“.
Nach den Reiterspielen gibt es Lunch. Serviert wird Brühe mit Hammelfleisch, Plov – das ist Reis mit Hammelfleisch –, Fettgebäck, Fladenbrot. Die Speisen sind köstlich. Fast alle. Ich muss lachen, als Karsten lustvoll ein Kurt-Bällchen verschlingt, weil er es für eine Süßigkeit hält. Kurt sind kleine harte saure Käsebällchen aus Stutenmilch. Um uns herum plaudern Engländer, Franzosen, Italiener, Deutsche, Österreicher über ihre Reispläne. Die Atmosphäre ist geschmeidig, lebhaft, international.
Nach dem Essen verkürzen die Veranstalter das Programm: Das Abbauen der Jurte wird übersprungen und dafür gleich das Kamel gepackt. Das Vieh wird einfach gelassen wo es ist und die Nomadenfamilie inszeniert den Auszug von der Sommerweide zu Pferd. Die beiden Musikstücke mit dem Akkordeon haben Karsten und ich leider wegen eines Spaziergangs zum See verpasst. Dafür sehen wir einen Haufen Viehdung, mit dem die Jurten geheizt werden, ein Klo in der endlosen Weite, den LKW der Nomadenfamilie und eine Engländerin, die mit einem Kalb Freundschaft schließen will.
Gegen Abend ziehen wir weiter. Gemeinsam mit Mariolein, Haimo, Colette und Michele finden wir einen Kilometer weiter einen Standplatz. Der Wodka steht schon auf dem Tisch als der Besitzer einer unweit gelegenen Jurte 500 Com von uns für die Nacht haben möchte. Er erzählt etwas von Pacht für das Weideland und Abgaben an die Gemeinde für Touristen. Ob seine Geschichte wahr ist, wissen wir nicht. Wir handeln auf 300 Com runter, also 1,72 Euro pro Gefährt. Der nächste Tag am Song-Kul beginnt zauberhaft. Die Weite verschluckt jedes Geräusch. Die getriebenen Pferdeherden nehme ich als Stummfilm wahr. Heimo meint, es sähe hier aus wie in der Mongolei. Er muss es wissen, er war schon einmal dort. Nach dem Frühstück verabschieden wir vier die beiden Franzosen und machen uns wieder auf den „Heimweg“ zum Issyk-Kul.
Wir probieren eine neue Route, die Mensch und Material viel abverlangt. Höhepunkt war die Umfahrung einer Baustelle in zentimetertiefem Feinstaub.
Wir fahren weiter durch Täler in denen Nomaden ihre Sommerlager aufgeschlagen haben, durch Dörfer mit Häusern aus Lehm und machen einen Stop in Kotschkor. In einem Laden für Kunsthandwerk kaufen Mariolein und Haimo einen gefilzten Teppich.
Erst spät am Abend, gegen 22 Uhr erreichen wir unseren Standplatz. Hier wartet auch schon Radek aus Polen auf uns. Er hat in den letzten zwei Tagen seinen Freund Marek mit dem Motorrad nach Bischkek begleitet. Er reist nun alleine weiter und wird die nächsten Tage mit uns verbringen… und vielleicht mit Karsten einen 5.000er besteigen.