Antikes Gedöns

Wenn man durch Griechenland fährt, dann stolpert man unweigerlich auch über Überreste aus dem Altertum, die quasi an jeder Ecke herumliegen. Teilweise stehen sie am Straßenrand und sind frei zugänglich. Dann handelt es sich meist um römische Ruinen. Oder sie sind umzäunt, bewacht und kosten Eintritt. Dann handelt es sich um Überreste griechischer Bauten. Wandelt man hindurch, kommt einem unausweichlich auch die Frage: Neun Euro Eintritt, nur um ein paar umgefallene Steinblöcke zu bestaunen?

Die abschätzigen einleitenden Worte täuschen. Tatsächlich bin ich ein ausgesprochener Fan der Antike. Am meisten fasziniert mich unser zwiespältiger Umgang damit. Auf der einen Seite ist die Kultur für uns unwiederbringlich untergegangen. Unsere Kirchen können fünf Mal durch Erdbeben oder Bombenangriffe in sich zusammengefallen sein, wir bauen sie akribisch immer wieder auf. Die antiken Ruinen hingegen werden ausgegraben, ausgeplündert und die Inhalte wie Statuen, Mosaike und Alltagsgegenstände in Museen quer über die Welt verteilt wie Trophäen ausgestellt. Das übrig gebliebene Baumaterial wird einfach liegengelassen. Vielleicht wird hie und da einmal eine Säule wieder errichtet, um den Besuchern die Größenverhältnisse der antiken Bauwerke zu verdeutlichen. Oder Sitzbänke in Theatern werden teilweise erneuert, um antike Theaterstücke in authentischer Atmosphäre aufzuführen. Die Dachkonstruktion aus Holz wird jedoch weggelassen, so dass man als Besucher von Ausgrabungsstätten unweigerlich den Eindruck bekommen muss, dass man früher immer im Freien gesessen hat, wenn man ins Theater ging. Überhaupt ist unsere Sicht auf das Altertum geprägt von dessen Darstellung. Genauso wie wir die Zeit vor hundert Jahren schwarzweiß sehen, weil in dieser Zeit die Farbfotografie noch nicht erfunden war, können wir den Eindruck gewinnen, dass in der Antike überall weiße Statuen mit fehlenden Gliedmaßen herumgestanden haben. Jedes griechische Restaurant, das etwas auf sich hält, stattet sich mit Rekonstruktionen dieser Steinmetzarbeiten aus. Dass diese Statuen zur Zeit ihrer Herstellung natürlich vollständig und auch bemalt waren, irritiert unsere Sicht auf diese untergegangene Kultur nur. Überhaupt muss die Antike weitaus lebendiger und farbenfroher gewesen sein, als man sich das anhand von Ruinen, Museumsbesuchen und Bildbänden vorstellen kann. Um einen Eindruck zu bekommen, wie lebendig die Zeit gewesen ist, empfehle ich einen Besuch in Pompei.

Auf der anderen Seite fühlen wir uns in der Neuzeit nicht zuletzt durch die Renaissance und die Aufklärung mit den grundsätzlichen Idealen des Altertums verbunden. Die Philosophie und die Demokratie werden besonders mit dem antiken Griechenland in Verbindung gebracht. Dass die Demokratie in den Stadtstaaten Griechenlands tatsächlich aufgrund einer geänderten Kampfesweise eingeführt wurde, sollte uns jedoch aufhorchen und wachsam sein lassen. Die ständig in kriegerischer Auseinandersetzung stehenden griechischen Städte im siebten Jahrhundert vor Christus bekämpften sich zunächst mit Pferden und Streitwagen. Dazu benötigt es Ausrüstung und Ressourcen, die nur dem Adel vorbehalten waren. Mit einer großen Menge bewaffneter Fußsoldaten konnte man jedoch die Reiterei des Gegners leichter schlagen. Diese so genannten Hopliten, die in geschlossener Formation (Phalanx) kämpften, wurden von der reichen Mittelschicht der Städte gestellt. Um diese Menschen zum Krieg zu motivieren, musste man sie auch an politischen Entscheidungen teilhaben lassen.

Bedenkt man noch, dass die Herrschaftsform der Demokratie nur für relativ kurze Zeit und nicht in allen griechischen Stadtstaaten währte, sondern die Monarchie, Aristokratie, Oligarchie, Tyrannei, Diktatur und Fremdherrschaft durch Makedonien (Philip II., sein Sohn Alexander und in dessen Folge die Diadochen), Persien und Rom vorherrschend waren, dann kann man unsere Sicht auf das demokratische Griechenland als verklärt betrachten. Wie ideell verklärt und überfrachtet sehen wir eigentlich die Demokratie in unserer heutigen Zeit der globalen Handelskriege, von denen auch nur eine reiche Oberschicht wirklich profitiert?

Ganz besonders sehen wir uns in der Neuzeit mit der aufgeklärten und vernunftgesteuerten Weltsicht der Antike verbunden. Natürlich haben auch die alten Griechen und Römer Herrschafts- und Besitzansprüche mythisch verklärt. Die Religion war allgegenwärtig. Doch die Geschicke des Staates wurden säkular gesteuert und es herrschte im Grunde Laizismus, also die religiöse Freizügigkeit. Einem gebildeten Römer muss das aufkommende Christentum mit seiner Leidensfähigkeit bis in den Tod, seinem Märtyrertum und dem Anspruch auf alleinige und einzig wahre Religion so vorgekommen sein, wie uns der islamische Fundamentalismus in den arabischen Staaten, im Iran und am Hindukusch oder der Kreationismus in vereinzelten Bundesstaaten der USA vorkommen. Hinter der Religion als grundlegende Ideologie einer Herrschaftsform steckt nichts anderes als systematischer Verdummung der Bevölkerung, um Macht auszuüben. Die Fokussierung auf den Glauben und die daraus resultierende Weltsicht führt nicht nur zu einer Erniedrigung des Menschen, sondern auch zu absonderlichen Blüten. Jahrhundertelang ging man davon aus, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt steht und die Sonne um die Erde kreist. Dann haben Leute mit Fernrohren einmal genauer nachgeschaut und festgestellt, es ist genau anders herum. Die Reaktion der Kirche auf diese Entdeckung war symptomatisch für ihre Machtausübung: mundtot machen und leugnen, Häretiker als Ketzer verbrennen. Erst die Aufklärung hat den über tausendjährigen Stillstand wissenschaftlichen und technischen Fortschritts beendet. Im Mittelalter ist als neues grundlegendes Material eigentlich nur das Schießpulver aus China hinzugekommen. Erst mit der Erfindung der Dampfmaschine, die ungefähr zeitgleich mit der französischen Revolution und dem Beginn des Zeitalters der Nationalstaaten mit der einhergehenden Trennung von Staat und Kirche fällt, endet auch das Joch der allgegenwärtigen christlichen Religion in Europa.

Wenn ich als Ungläubiger heute vor einer Kirche stehe, sehe ich ein kulturell entleertes Baudenkmal, das im Gegensatz zu antiken Ruinen nur besser gewartet wird. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden. Ich spreche von Religion als Ideologie der weltlichen Machtausübung und nicht von dem persönlichen Glauben einzelner Menschen. Die christliche Religion halte ich mit ihrem Anspruch darauf, den einzig wahren Glauben zu vertreten für genauso gefährlich wie den Islamismus und  die Lehren der Thora.

Bleibt die Frage, wie es mit uns Menschen weitergeht. Geht unsere derzeit weltbeherrschende westliche, kapitalistisch ideologisierte Kultur genauso unter wie einst das römische Reich? Ausgelöst von massenhaften Völkerwanderungen aufgrund klimatischer Veränderungen in einigen armen Entwicklungsländern, oder ganz einfach, weil uns das Öl ausgeht? Und wird dann der fundamentalistische Glaube wieder einen Aufschwung erfahren, weil der Kapitalismus einfach mit keiner Erklärung für das viele kommende Leid aufwarten kann? Oder kriegen wir doch die Kurve mit noch vollendeter und ausgefeilterer Technologie? Schaffen wir mittels künstlicher Intelligenz und Gentechnik neue Wesen? Unsterblich, geistig uns um ein Vielfaches überlegen, ausschließlich vernunftgesteuert ohne emotionale Anteile sowie bereit und fähig, die biologischen Fesseln unseres Planeten zu sprengen und zu anderen Planeten und Sonnensystemen zu reisen? Als Optimist hoffe ich, dass letzteres eintritt und die Übergänge friedlich und gerecht verlaufen. Als Realist glaube ich, dass alle Befürchtungen der Menschen eintreten. Vielleicht nicht so krass, wie in einigen Hollywood-Filmen dargestellt, sondern zeitlich entzerrt. Ich denke jedoch, dass wir, die große Masse, bereits heute sehr viel über potenzielle Veränderungen wissen und dass Augen verschließen kein probates Mittel ist, um diese Veränderungen abzuwenden.
Was das jetzt noch mit dem antiken Gedöns in Griechenland zu tun hat? Eigentlich gar nichts mehr. Diese Gedanken überkommen mich nur einfach, wenn ich in den Grundmauern von weltlichen und geistlichen Gebäuden stehe, die in den Zeiten ihrer Nutzung riesenhaft gewesen sein müssen. Dann wünsche ich mir jedes Mal, ich könnte durch die Zeit reisen und in diese vergangenen Kulturen eintauchen.

In dieser Kategorie versuche ich unsere Eindrücke aus den Ausgrabungsstätten, die wir besucht haben, mit meinem geschichtlichen Halbwissen in einen historischen Kontext zu setzen. Die Ausgrabungsstätten können über das Aufklappmenü unter „Antikes Gedöns“ aufgerufen werden.

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