Schmatzen und Schlürfen – oder über das interkulturelle Lernen

Robert Levine schrieb in seinem Buch Eine Landkarte der Zeit – wie Kulturen mit der Zeit umgehen, dass ein Auslandsreisender in der Regel mehr über seine eigene Kultur als über die des besuchten Landes lernt. Vor Antritt unserer Reise hätte ich diese Aussage albern gefunden. Heute verstehe ich, was er damit meint.

Ich bemühe mich, die Kultur meiner Gastgeberländer zu verstehen. Weil ich es spannend finde und bereichernd. Deswegen reise ich ja auch und verbringe nicht das Jahr im Solimare Moers (wobei das sicherlich auch interessante interkulturelle Begegnungen mit sich bringen würde). Ich beobachte die Menschen auf meiner Reise, ich lese über Traditionen und Gepflogenheiten. Ich unterhalte mich mit Einheimischen und frage, insoweit es die Sprachbarrieren ermöglichen.

Doch auch wenn ich einige hiesige Bräuche, ein paar soziale Regeln oder Werte intellektuell nachvollziehen kann, heißt das noch nicht, dass ich sie auch wirklich begreife. Der Grund dafür liegt in einer simplen Einsicht: Jede Gepflogenheit, jede Einstellung kann nur in ihrem vielschichtigen kulturellen Kontext verstanden werden. Und diesen erfasse ich nicht bei einem Einkauf auf dem Wochenmarkt, nicht beim Ballspiel mit ein paar Kindern, ja nicht einmal bei einer Tasse Tee mit einem Greis. Ich glaube es bedarf vieler Jahre intensiven Eintauchens und Lebens in und mit einer Gesellschaft, um wirklich „sehen“ zu lernen. Wenn es überhaupt möglich ist. In meiner schnöden Urlaubsreise hingegen bewege ich mich auf einer anderen Stufe, um wieder auf Levine zurückzukommen. Durch die Auseinandersetzung mit hiesigen „Andersartigkeiten“ beginne ich meine eigene Kultur differenzierter zu betrachten. Ich analysiere eigene Werte und Gepflogenheiten, die ich immer als allgemeingültig wahrgenommen habe.

Ein Beispiel: In der Türkei war ich anfangs „verschnupft“ über die Art und Weise, mit der einige Einheimische unseren Hund behandelten. Sie verjagten ihn, beschimpften ihn oder – das ist glücklicherweise nur einmal passiert – gaben ihm einen Stockhieb auf die Nase. Dann lernte ich, dass Hunde im Islam als „schmutzige Tiere“ gelten. Das war mir neu. Mit dieser Erklärung verstanden wir das Verhalten unserer Gastgeber besser und bekamen die Möglichkeit, uns kulturell anzupassen: Wir hielten Loukas ab sofort in der Öffentlichkeit näher bei uns, verboten ihm Fremde anzuspringen und ließen ihn bei Einladungen im Bus. Trotzdem habe ich diesen Ekel vor unserem (wirklich zuckersüßen Hündchen) nie wirklich verstanden. Stattdessen wurde mir deutlich, wie nah sich Mensch und Hund in meinem eigenen Kulturkreis sind. Niemand ist bei uns überrascht, wenn man einen Hund als Gefährte, Freund oder gar Familienmitglied bezeichnet. Man widmet ihm viel Zeit und Aufmerksamkeit. Und wenn er stirbt, dann trauert man um ihn. Aussagekräftig finde ich den Kommentar eines befreundeten Hundebesitzers. Der sagte mal zu mir: „Kinder sind doch wirklich ein schlechter Hundeersatz“. Es wäre sicher interessant, einen kappadokischen Bauern einmal mit dieser Aussage zu konfrontieren.

Ich erlebe auf der Reise auch Gepflogenheiten, die ich noch nicht intellektuell verstanden habe, und die trotzdem zu einer Auseinandersetzung mit meiner eigenen Kultur führen. Dazu gehört das kasachische „Ich zuerst“-Spiel. Das gibt es wirklich. Mein Reiseführer hat mich schon vorab darüber informiert. Dummerweise hat die Autorin vergessen Tipps zu geben, wie man es richtig spielt. Ich erlebe es hier fast täglich: im Lebensmittelgeschäft, beim Wasser holen, im Straßenverkehr. Schon 30 Kilometer hinter der Grenze in meinem ersten Supermarkt ereignete sich folgendes: Ich war die nächste an der Kasse und hatte bereits sämtliche Artikel auf das Band geräumt. Sechs (!) andere Kunden drängelten sich kreuz und quer an mir vorbei. Jeder von ihnen hatte einen Grund, den die Kassiererin für wichtig genug erachtete, um sie vorzulassen und mich zu ignorieren. Über meinen Kopf reichten sie Wasser- und Wodkaflaschen und warfen Tengescheine. Ja, und ich stand da wie Hein-Blöd und durfte nicht mitspielen. Erst als ich allein an der Kasse stand, kam ich dann auch mal dran. Das Interessante an diesem – in meinem Kulturkreis sicherlich als unverschämt einzustufenden – Verhalten ist, dass es hier funktioniert! Die Läden, Ämter und Straßen sind voll von Vordrängelnden und Zurückgedrängten. Niemand schimpft. Keilereien gibt es nicht.  Alle sind freundlich zueinander und lächeln dabei. So ungeduldig wie die einen sich vordrängeln, so geduldig warten die anderen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, die in meinem Kulturkreis gültige Volksweisheit „Wer zuerst kommt malt zuerst“ und das heilige „Schlangestehen“ in Frage zu stellen.

Dann gibt es noch die Variante, dass ich die Gründe einer Gepflogenheit nicht verstehe und trotzdem äußerst einverstanden bin mit ihr. In unserem Kulturkreis ist es unfein – ja es wird zuweilen sogar als eklig angesehen – wenn man schmatzend isst und schlürfend trinkt. Ich habe das noch nie verstanden. Erstens macht es Spaß und zweitens schmeckt es so einfach besser. Ich glaube, nicht ohne Grund schmatzen und schlürfen Kinder, bevor ihnen ihre Eltern beibringen, dass man „das nicht tut“. Zu Gast bei Kasachen beweist man hingegen gute Tischmanieren, wenn man schmatzt und schlürft was das Zeug hält. Es zeigt dem Gastgeber, dass es schmeckt. Auch das steht in meinem Reiseführer. Neulich, bei Galymhan und Samchan in Turkestan, habe ich mich daran erinnert und es prompt ausprobiert. Von der Gastgeberin erntete ich ein zufriedenes Lächeln, als ich meine Suppe geräuschvoll schlürfte. So macht interkulturelles Lernen Spaß!

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Kasachstan abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Kommentare zu Schmatzen und Schlürfen – oder über das interkulturelle Lernen

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.