Aralsk und Kaffeeklatsch mit einem Kamelzüchter

Rückblick … Aralsk ist mit Abstand der abscheulichste und traurigste Ort, den ich in meinem Leben besucht habe. Ich habe viel über diesen Ort gelesen oder in Fernsehreportagen gesehen. Ich hätte mir denken können, wie traurig er ist. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es sich auch so anfühlt. Ein dicker Kloß steckt im Hals beim Anblick dieser heruntergekommenen Stadt. Zerstörte, verlassene Gebäude säumen den Straßenrand. Das einzige Hotel am Platz erweckt den Eindruck als hätte es schon vor Jahren geschlossen. Die Luft ist staubig und salzig. So salzig, dass es sich wie ein Film auf den Körper legt. Eine Honigmelone, die auf unserem Teller zwischen Fahrer- und Beifahrersitz liegt, schmeckt nach 20 Minuten salzig.

        

Die Einheimischen, mit denen wir Kontakt haben, wirken missmutig und traurig, sind unfreundlich. Vermutlich auch skeptisch gegenüber Touristen und „Schaulustigen“, was ich verstehen kann. Kontaktfreudig, neugierig und nett sind einige Kinder, die sich unverwandt zu uns in den Bus gesellen. Der Tankstellenwart ist an diesem Tag freundlich, am nächsten schickt er Karsten grummelnd weg. Karsten ist nämlich so dreist, ihn in seinem Tankstellenhäuschen beim Schlafen zu stören und Autogas tanken zu wollen.

  

Ein kleiner übriggebliebener See mitten in der Stadt stinkt bestialisch nach Urin und Abfall. An seinem Ufer grasen Kamele und Kühe. Es stehen auch Häuser dort. Dort spielen Kinder. Später erfahre ich von Bugra und Mustafa, dass die Kommune den See als örtliche Mülldeponie nutzt. Das sei billiger als eine Deponie außerhalb von Aralsk zu betreiben. Ich frage: „Hat die Kommune kein Geld?“ Die Antwort tut weh: „Doch, aber die Verantwortlichen stecken die Steuern in die eigenen Taschen.“

  

Jedes zehnte Kind, das in Aralsk geboren wird, erlebt seinen ersten Geburtstag nicht. Das Salz und der Staub – alles was hier noch vom Aralsee übrig ist – setzen sich in den Bronchen fest, verursachen Asthma und Allergien. Als wäre das noch nicht schlimm genug, gab es in den letzten Jahren vereinzelte Fälle von Pest. Tiere starben an Milzbrand. Die Sowjets haben bis Anfang der 1990er Jahre auf einer Insel im Aralsee Biowaffen getestet. Mit der Unabhängigkeit Kasachstans vergruben sie die Fässer mit den Erregern einfach im Sand und verschwanden. US-Truppen entdeckten sie einige Jahre später und veröffentlichten, dass einige Fässer Lecks hatten. Durch den sinkenden Wasserspiegel hat sich die Insel deutlich vergrößert und die Entfernung zum Festland entsprechend verringert. Man vermutet, dass Vögel Erreger an das Festland gebracht haben. Auch wenn die Lecks mittlerweile geschlossen wurden, bangt man vor dem Tag, an dem die Insel eine Halbinsel wird… 35.000 Menschen harren trotzdem noch immer in Aralsk aus. Vielleicht haben sie keine Alternative… oder sie warten und hoffen auf die Rückkehr des Wassers (siehe Kommentar von zurken).

Der lebendigste Ort in Aralsk ist wohl der Basar. Es gibt eine Markthalle, in der viele Verkäuferinnen an kleinen fest installierten Ständen alle das gleiche verkaufen. Es gibt nicht viel Auswahl. Brot und Kekse, Bonbons, einige Konserven. Tomaten, Gurken und Pflaumen. Hühnerschenkel gammeln bei über 30 Grad auf einer Theke. Vor der Halle verkaufen Frauen in der glühenden Sonne vornehmlich Melonen, Zwiebeln und Getreide. Wenn man sich die Fotos eingehend anschaut, wird man auch hier kaum ein Lächeln in den Gesichtern finden. Was ich verstehen kann.

       

Eines der Ziele unserer Reise war, den Aralsee zu sehen. Wir haben alles versucht, um dies gemeinsam erleben zu können (lies: Karstens Artikel Aralski More). Dann wird klar: nur einer oder keiner. Da Karstens Wunsch, den Aralsee zu sehen, etwa 17 Jahre älter ist als meiner, und ich ohnehin kein Motorrad fahren kann, verzichte ich auf das Erlebnis. Wenigstens habe ich ihn am Vortag einmal aus der Ferne gesehen.

  

Dafür bekomme ich morgens Herrenbesuch. Auf dem Motorrad kommen sie erst zu zweit und mit einem platten Autoreifen. Ob ich eine Luftpumpe hätte, fragen sie. Ein bisschen nervös bin ich – so allein mit zwei fremden Männern in der Steppe. Ich gebe ihnen unseren Kompressor und schließe ihn an den Zigarettenzünder an. Sie sind freundlich, vorsichtig, distanziert. Ich glaube, sie denken was ich denke und wollen signalisieren: „Alles ok. Wir wollen wirklich nur Luft.“ 30 Minuten nachdem sie verschwunden sind, kommt das Motorrad wieder. Diesmal ohne Beifahrer. Der Fahrer ist neugierig. Steckt seinen Kopf durch das Fenster. Ob ich Tee hätte für ihn? Tee, nein. Aber Kaffee. Die Idee findet er super. Ich koche Kaffee, lade ihn aber nicht zu mir in den Bus ein. Stattdessen stelle ich zwei Hocker davor. Wir trinken Kaffee, erzählen – mit Händen und Füßen, mit Bildern, mit Brocken Russisch. Kamelzüchter ist er. 100 Kamele hat er. Und Pferde. Und eine Frau und drei Kinder. 30 Jahre ist er alt. Die zwei Fischer vom Aralsee, die in meinem Reiseführer abgebildet sind, kennt er. Einer ist 2007 gestorben. Aber der andere ist 82 und noch topfit. Meine Aufregung weicht und der Kaffeeklatsch wird nett. Trotzdem bin ich froh, als Karsten zwei Stunden später wiederkommt und den Kamelzüchter ablöst.

Als Abschluss unseres Aralsee-Besuchs fahren wir zurück in die Stadt und wollen zu Fuß den ehemaligen Hafen finden. Ihn finden wir nicht, dafür aber Bugra und Mustafa, die uns spontan zum Abendessen einladen. Ihr Haus und ihre Gesellschaft sind wie eine Oase an diesem furchtbaren Ort. Deswegen haben sie auch einen eigenen Artikel verdient (lies: Die Oase von Aralsk: Bei Bugra, Mustafa und Talan).

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