Kasachen oder Kasachstaner?

Ehrlich gesagt habe ich mich vor unserer Einreise nur wenig mit Kasachstan beschäftigt. Ich wusste vom schwindenden Aralsee und der damit verknüpften ökologischen Katastrophe. Ich wusste, dass die Sowjets ihre Atomwaffen auf kasachischem Boden getestet haben, und dass Stalin zigtausende Menschen hierher in Arbeitslager verbannt hat. Ich wusste, dass es viel Steppe gibt und zwei Hochgebirge. Ich wusste, dass das Land viel Öl besitzt. Bei so wenig Vorwissen ist es leicht, sich mit interessanten Fakten überraschen zu lassen.

Zum Beispiel damit, dass im neuntgrößten Land der Welt Vertreter von 121 unterschiedlichen Nationalitäten leben. Sie alle sind Kasachstaner, 16 Millionen etwa (2009). Aber nur die Hälfte (52 %) von ihnen sind auch Kasachen, die der Titularnation angehören. 31 Prozent der Kasachstaner sind Russen, 4 Prozent Ukrainer, je 2 Prozent Tataren und Deutsche. Die anderen 9 Prozent der Bevölkerung repräsentieren die übrigen 116 Nationalitäten. Dieser Völkermix ist zum einen auf die jahrhundertelangen Wanderungen und Eroberungszüge in Zentralasien zurückzuführen (wir alle kennen beispielsweise Temüdschin, den Dzhingis Khan), zum anderen auf Stalins Deportationspolitik (z.B. Wolgadeutsche, Tartaren, Kalmücken – siehe auch Artikel Russland).

Zurück zu den Kasachen: Bis Ende der 1920er Jahre lebten viele Kasachen – soweit ich weiß sogar die meisten – als Halbnomaden. Das heißt, im Sommer sind sie mit ihrem Vieh und ihrer Jurte durch die Steppe gezogen und haben dort mit der ganzen Familie gelebt. Die Steppenvegetation ist so karg, dass die Beweidung an einem Ort eine Herde nicht ernähren könnte. Nur in den bitterkalten Wintermonaten (bis zu -40 Grad) lebten sie in festen Winterquartieren.

Stalin hatte dann die unglaubliche Idee, das Nomadentum des kulturellen Fortschritts willen zu verbieten. Den Familien wurden Siedlungen zugewiesen wo sie sich niederlassen mussten. Das Vieh wurde größtenteils enteignet und in Kollektivwirtschaften versorgt. Dort starb der Großteil der Tiere. Die ganze Aktion brachte schließlich rund zwei Millionen Menschen den Hungertod. Eine weitere Million wanderte aus, zum Beispiel nach China und in die Mongolei. Bravo, Stalin. Das nenn ich mal Fortschritt.

Seit dem Untergang der Sowjetunion gibt es wieder Halbnomaden in Kasachstan. Wir haben leider noch keine getroffen. Dafür eine ganze Reihe anderer Kasachen und Kasachstaner. In Kontakt zu kommen ist recht einfach. Die Menschen sind freundlich und als deutsche Touristen sind wir hier echte Exoten. Unser Wohnmobil macht dann noch einmal extra neugierig. (Viele schütteln nach einer Busführung erstaunt den Kopf und kommentieren sinngemäß „Ts ts, sowas gibt´s ja gar nicht“.)

Das Titelfoto zeigt übrigens drei junge Kasachen. Sie leben in dem 600-Seelen-Dorf Zalanai etwa 60 Kilometer hinter Aralsk. Vor wenigen Jahrzehnten noch lag das Dorf direkt am Aralsee. Heute ist das Ufer rund zehn Kilometer weit weg. Da wo mal Meer war ist jetzt Morast und Sand, Fischkutter verrotten genau an den Stellen, wo sie früher im Wasser lagen. Die Menschen leben heute nicht mehr vom Fischfang. Jetzt züchten sie Kamele und Pferde.

In einem Vorort von Aktöbe trafen wir diese ukrainische Kasachstanerin beim Wasser holen. Sie ist 72 Jahre alt und lebt mit ihrem Hund in einem kleinen Haus gleich hinter der Wasserpumpe. Ich hätte sie gern gefragt, wann und wieso sie in das Land gekommen ist. Für diese Qualität der Konversation reicht mein Russisch dann aber leider doch nicht aus. Statt zu reden hielt ich ihren Wassereimer, was eigentlich völlig überflüssig war. Die Bizeps der Frau waren doppelt so dick wie meine. Meine Frisur auf dem Foto bedeutet übrigens nicht, dass ich gerade erst aus dem Bett gekrochen bin. Auch stehe ich mit Karsten in keinerlei Wettbewerb zum Thema Haarwuchs. Der Wind stand einfach ungünstig.

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