Russland

Leute, fühl ich mich gut.

Die letzten sechs Wochen hatte ich einen Reiseblues. Alles fand ich irgendwie anstrengend. Der Bus war zu eng, die Straßen zu holprig und mein Geist mehr zurück als nach vorn gerichtet. Die Woche an der Krim hat mich tiefenentspannt. Ich habe den ganzen Tag am Meer gesessen, gelesen, geschrieben, Delfinen zugeschaut.

Jetzt sind wir in Russland. Meine Reiselust ist wieder da. Mehr denn je. Jeden Kilometer, den wir fahren, finde ich spannend. Russland war immer so weit weg, vor allem gedanklich. In den letzten drei Tagen sind wir 1.000 Kilometer durch das Land gefahren. Krasnodar, Stavropol und Elista lagen auf dem Weg. Drei Städte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dazwischen wenig. Alle fünfzig Kilometer mal ein Dorf. Anfangs Felder, soweit das Auge schauen kann. Mais, Sonnenblumen, Weizen. Später Steppe bis zum Horizont. Eine Rückschau mit Bildern:

Wir sind auf russischem Boden. Wir fahren über eine Landzunge, links und rechts sehen wir das Asofische Meer und das Schwarze Meer. 30 Kilometer vor Krasnodar verbringen wir die Nacht. Erst am nächsten Tag sehen wir, dass wir neben einem See mit Lotusblumen geparkt haben. Ein nostalgischer Metallsteg führt auf den See. Dass die Metallplatten im Boden an einigen Stellen aufgebogen sind, macht die Szene nur noch stimmiger. Liebespärchen haben Schlösser an das Geländer befestigt.

       

In Krasnodar wundern wir uns über das wohlhabende und westlich wirkende Erscheinungsbild der Stadt. Wir biegen im Zentrum falsch ab und Polizisten halten uns an. „Adkuda? Kuda?“ „Woher? Wohin?“ Diese zwei Fragen habe ich in den letzten Tagen so häufig von Offiziellen gehört. „Germania – Ukraine – Russia – Kasachstan“, antworte ich. „Charascho. Dawai.“ „In Ordnung. Fahrt weiter“, ist die Standardantwort. Nur zwei Male mussten wir die Pässe vorzeigen. Insgesamt wurden wir in drei Tagen sechs Mal kontrolliert!
In Krasnodar finden wir im Stadtpark ein freies Wi-Fi-Netz. Laute Musik dröhnt durch Lautsprecher. Märsche und so. Ich frage mich, ob wohl in einer nicht wahrnehmbaren Frequenz irgendwelche Parolen in die Gehirne der vielen Sonntagsspaziergänger  gepflanzt werden. Ganz ohne Vorurteile schaff ich es wohl auch nach sieben Monaten Reise nicht. Dann höre ich eine männliche Stimme durch das Mikrofon. Wenig später marschiert eine Kosaken-Parade durch die Straße. Sie spielen Musik, reiten, drehen sich im Stechschritt um die eigene Achse und salutieren. Die Szene erinnert mich an Monty Python’s „Ministry of silly walks“. Ich habe tolle Videoaufnahmen gemacht. Die muss ich aber erst einmal schneiden. Also hier jetzt nur ein Foto.

Wir fahren durch Felder, Felder, Felder. Soweit das Auge reicht. Allmählich wird die Landschaft karger. Gegen acht Uhr erreichen wir Stavropol, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Die Stadt liegt als einzige Anhöhe in der Weite  auf 500 Meter NN. Es zieht und windet. Nur noch 16 Grad Celsius zeigt das Thermometer neben dem Lenin-Denkmal. Eine dunkle Regenwolke hängt tief. Die Stadt ist hässlich. Potthässlich. Karsten kommentiert mit einem Wort: „Knaststadt“.  Noch zwei Stunden bis zum Spiel Deutschland – Dänemark. Nur deshalb bleiben wir hier. Wir haben keine Lust, eine Kneipe zu suchen. Loukas darf in Russland sowieso nicht mit (Hundeverbot in allen Kneipen und Restaurants). Karsten findet ein freies Wi-Fi-Netz eines Einkaufzentrums und direkt dahinter ist ein einsamer öffentlicher Parkplatz. Der Empfang ist schlecht. Aber wir sehen das Spiel – hakelig. Beide Tore verpassen wir, weil das Netz kurz weg ist. Aber was solls. Hauptsache die deutsche Mannschaft gewinnt.

Am nächsten Morgen steuern wir Elista an. Die 300 Kilometer fahre ich gutgelaunt. Die Straße ist ok. Links und rechts fahren wir durch die größten Sonnenblumenfelder meines Lebens. Ich habe die ganze Zeit die Lieder von Ralf Siegels Schlager-Gruppe  „Dschinghis Khan“ aus den 70ern/80ern im Kopf und trällere die Strophen vor mich hin. Die Landschaft verändert sich wieder. Weizenfelder so weit das Auge reicht. Dann Steppe und alle fünfzig Kilometer mal ein staubiges Dorf. Die Häuser sind aus Holz gebaut, die Zäune drum herum auch. Asphaltiert ist nur die Hauptstraße. Menschen sehen wir wenige (abgesehen von den Polizisten). Die Menschen die wir sehen, verändern sich äußerlich, je näher wir Elista kommen.

       


Elista ist schräg. Buddhistische Tempel und Statuen, bunte Gebetsfahnen und „mongolische Gesichter“. Die Gesichter gehören meist den so genannten „Kalmyken“. Als Nomaden sind sie im frühen 17. Jahrhundert aus der Mongolei hier hergekommen, um Weideland für ihr Vieh zu finden. Die Regierung in Moskau hieß sie Willkommen. Im Gegenzug bewachte das Volk die Grenze gen Osten am Wolgadelta. Doch durch deutsche und russische Siedler gerieten die Kalmyken eineinhalb Jahrhunderte später in Bedrängnis. Im Winter 1771 wollten sie zurück in die Mongolei fliehen. Doch die Wolga war nicht fest genug gefroren, um den Fluss zu queren und auch denjenigen die Flucht zu ermöglichen, die am westlichen Wolgaufer siedelten. 20.000 der 160.000 Familien blieben also hier. Von denjenigen die geflohen waren, starben zwei Drittel durch Feindeshand. In den 1920er Jahren verhafteten Bolschewiken die Mönche, schlossen Klöster und Tempel. Als Hitlers Truppen die Stadt 1942 kurz einnahm, schlossen sich einige Kalmyken den Nazis an und kämpften für die Deutschen gegen die Russen. Gleichzeit kämpften Tausende Kalmyken für die Russen gegen die Deutschen. Nach dem Krieg verhängte Stalin dennoch eine Kollektivstrafe. Alle Kalmyken wurden im Winter in ungeheizten Viehwagen in sibirische Arbeitslager deportiert. Erst 1957 durften sie zurückkehren. 93.000 kamen, viele andere waren in den Arbeitslagern gestorben. Heute ist der Buddhismus für Besucher wieder deutlich zu spüren und fest im Alltag der Einheimischen verankert. In Elista wollte uns übrigens zum ersten Mal jemand allein aus dem Grund fotografieren, weil wir aus Deutschland kommen.

       

Nach Elista folgen 300 Kilometer Steppe. Soweit das Auge reicht. An einem Kriegsdenkmal in der Mitte vom Nichts wollen wir ausnahmsweise nicht Schweigen. Karsten meint, ich könnte mal eine Schreitherapie gebrauchen. Das würde mich locker machen. Dies sei ein hervorragender Ort dafür. Er macht es mir vor. „Du winkelst die Arme an, atmest so tief ein wie es nur geht, dann presst du mit großem Druck die Luft wieder raus und schreist so laut, wie du nur kannst“. Ich mache es ihm nach und schreie so laut, wie noch nie geschrien hab. Karsten: „Das kannst du besser.“ Ich schreie wieder, diesmal lauter, meine Stimmbänder kratzen. Karsten: „Das kannst du lauter.“ Ich glaube es nicht, schreie zum dritten Mal, und bin überrascht über die Kraft meiner Stimme. Um sie zu erleben, musste ich also erst in die einsame russische Steppe fahren.

  

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