Erinnerungen an früher

Mülheim ist im Zweiten Weltkrieg durch die Bombenangriffe der Alliierten vollkommen zerstört worden. Selten ist mir das so bewusst geworden, wie in den letzten Tagen. Mein Vater, der 1942 geboren wurde und in Mülheim aufgewachsen ist, hat den Bombenkrieg, die Trümmerjahre und Hungersnöte als Kleinkind erlebt. Der Wiederaufbau wurde zwar in kürzester Zeit bewältigt, doch was da als Ersatz errichtet wurde – vor allen Dingen in der Innenstadt -, würde man bei einem lebenden Organismus als schlecht verheilte Narbe bezeichnen. Die Hochhäuser im Zentrum sind zwar erst in den Siebzigern entstanden, als Bausünde stehen sie jedoch der Nachkriegsära in nichts nach. Die ersten zehn Jahre habe ich direkt in der Innenstadt gelebt und konnte als Kleinkind den Bau der Hochhäuser direkt vis-a-vis mitverfolgen.

In diesem Haus in der zweiten Etage war das, daneben die Hochhäuser:

 

Mein Spielrevier beschränkte sich zunächst auf diesen Hinterhof hinter unserem Haus:

Ursprünglich war der Hof vollkommen asphaltiert, doch zusammen mit einem Nachbarkind haben wir gemeinsam die Oberfläche mit Steinen bearbeitet und ihn kurzerhand in einen Steinspielplatz umfunktioniert. Nach unserem Auszug hat man offensichtlich Gras über die Sache wachsen lassen. Später verließen wir den Hof, um das dahinter liegende Parkdeck zu erkunden:

 

Die Leiter hat mich im Alter von sieben Jahren einen kurzen Aufenthalt im Krankenhaus gekostet. Ich wollte meiner Cousine zeigen, wie toll ich daran hochklettern konnte. Damals war der untere Teil hochgeklappt und als ich mich daran festhielt, klappte das Teil um und schlug mir mit dem Ende auf meinen Hinterkopf. Ich wurde sofort ohnmächtig und brach mir beim Sturz noch ein Ellenbogengelenk an. Die sechs Zentimeter breite Narbe an meinem Hinterkopf kann ich heute noch gut fühlen.

Danach habe ich mein Revier um die zentrale Innenstadt erweitert. Vornehmlich spielten wir in der Fußgängerzone oder in der darunterliegenden Tiefgarage, die übrigens mein Onkel konzipiert und als Bauleiter gebaut hat:

 

Ich entsinne mich, dass meine Cousine und ich einmal von einem Wächter verwarnt worden sind, dass die Tiefgarage kein Spielplatz sei. Daraufhin entgegnete sie ihm voller Selbstbewusstsein, dass wir dort spielen durften, weil ihr Vater die Garage gebaut hätte.

Die Fußgängerzone mit ihren Passagen und künstlerischen Highlights ersetzte die nicht vorhandenen Spielplätze:

   

Die runde Kugel war, aus der heutigen Sicht betrachtet, mein erster Kletterfelsen, den ich free solo bezwungen habe.

Überhaupt haben wir damals eigentlich den Parkour erfunden. An dieser Stelle lag die Schwierigkeit darin, kletternd die Tür zum Parkeck zu überwinden:

Meine institutionelle Laufbahn ist in den drei folgenden Bildern dargestellt (von links nach rechts: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium):

   

Das Gymnasium hieß Karl-Ziegler-Schule. Wir nannten es zärtlich „KZ“. Gegenüber dem katholischen Kindergarten befand sich die Gemeindekirche Sankt Mariä Geburt:

Hier residierte ein Pastor, der mir im Alter von 13 Jahren, nachdem ich den ersten Termin zur Firmung nicht wahrgenommen hatte, einen Brief schrieb, in dem er mir vorwarf, dass ich eine große Sünde begehen würde, wenn ich mich nicht firmen ließe. Ich bin das Risiko eingegangen und habe die irdische Vertretung des christlichen Glaubens dann sofort verlassen, sobald ich das erste Mal Kirchensteuer zahlen musste.

Der Kaufhof, der in den Siebzigern das Zentrum der Befriedigung der alltäglichen Nachfrage an Gebrauchsgegenständen darstellte, ist mittlerweile nur noch ein Schatten seiner selbst. Dafür findet man über dem letzten übriggebliebenem Eiscafé in der Fußgängerzone noch eine echte Stilblüte.

 

Die Bilder suggerieren vielleicht, dass Mülheim eine potthässliche Stadt ist. Das stimmt tatsächlich für das Zentrum, in dem ich aufgewachsen bin. Die Altstadt mit ihren drei bis fünf Fachwerkhäusern muss man bewusst suchen, will man sie entdecken.

Der südliche Teil der Stadt kann jedoch mit dem Stadtwald und dem Ruhrtal aufwarten. Dort ist es teilweise wirklich schön.

Mir scheint, dass meine Kindheit mit exakt dem heutigen Tag eine Art Abschluss erfahren hat. Woran ich das merke? Wenn Sylvia und ich von unserer Reise zurückkehren, will ich auf dem Land wohnen. Unsere nächste Wohnung hat einen Garten, eine Garage und eine Feuerstelle. Der Wald ist in zwei Minuten Fußnähe zu erreichen. Nach zwei Monaten Auszeit in der Natur ist mir klar geworden, wie erholsam die Stille ist und dass ich das hektische Stadtleben nicht mehr brauche.

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