Donnerstag habe ich Karsten zum Flughafen gebracht. Eine Woche ist er nun zu Hause bei seiner Familie, um sich von Vater und Tante ein letztes Mal zu verabschieden. Ich bleibe indes hier und wache über unsere sieben Sachen.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich ganz allein zu sein. Die letzten zwei Monate gab es praktisch keine Intimsphäre. Ständig, in jedem Moment und überhaupt immer war Karsten an meiner Seite. Jetzt ist es still hier im Bus. Das ist manchmal unheimlich. Insgesamt aber fühle ich mich wohl. Ich kann mich ganz auf mich konzentrieren und auf die letzten Korrekturen meines Berichtes für die Nationalparkverwaltung, der am 16. Januar endlich in Druck geht.
Ich stehe mit dem Bus auf einem AutoCamp, einer Art Wohnmobilhafen, im antiken Korinth. Hier habe ich eine gute Infrastruktur (Strom, Wasser, heiße Dusche, Waschmaschine, Internet im Dorf) und ich fühle mich gut aufgehoben. Der Camping wird von einer Großfamilie betrieben, die auch hier wohnt: Oma, Opa, Mama, Papa drei Kinder zwischen 5 und 14, Tante. Und ein ganz junger Shäferhund, der aber – wie viele Hunde hier in Griechenland – vor der Tür an der Kette liegt.
Oma und Opa versorgen mich ständig mit Kuchen und Plätzchen und Orangen. Donnerstagabend klopft es um 22 Uhr an mein Fenster. Dort steht „Papa“ mit zwei Anstandskindern. Ich sei doch jetzt allein, und ob ich nicht mit ins Haus kommen wolle, dort hätte ich Gesellschaft. Ich bedanke mich, lehne aber ab. Bin sehr müde und auf dem Weg ins Bett. Außerdem genieße ich gerade die Ruhe. Nachdem ich die Tür wieder schließe frage ich mich, warum die Familie diese Herzlichkeit nicht auch dem einsamen Hund zukommen lassen kann.
Nach einer traumlosen Nacht erwache ich Freitag sehr früh. Es regnet aus Eimern. Normalerweise beginnen unsere Tage mit folgendem Dialog. Ich (im warmen Bett): „Machst du Kaffee?“ Karsten (im gleichen warmen Bett): „Nö, ich will gar keinen Kaffee.“ Ich: „Komm schon, du bist dran.“ Karsten (entschlossen): „Nö.“ Ich (resigniert aufstehend): „Na gut, nützt ja nix.“ Karsten: „Machste mir auch einen?!“ Heute erhebe ich mich wortlos, koche Kaffee nur für mich und schalte die Heizung ein.
Gegen Mittag klopft Oma an mein Fenster. Die Familie lädt mich zum Mittagessen ein. Dummerweise habe ich gerade ein üppiges Mahl verputzt, lehne also dankend ab. Sie lässt aber nicht locker. Wirkt sichtlich beleidigt. Ich versuche zu erklären, dass ich gerade sehr satt bin. Sie stampft entschlossen mit dem Fuß auf den Boden, ruft „Madame!“ und ich weiß, wenn ich jetzt nicht freiwillig mitkomme, wird sie mich gleich eigenhändig an den Ohren an den Mittagstisch ziehen.
Das Haus ist gemütlich und warm, im Kamin brennt ein Feuer. Der Tisch ist reichlich gedeckt. Es gibt Schweinebraten mit Kartoffeln, gebackene Eier, Krautsalat und Schafskäse. Oma und Opa bekreuzigen sich, das Mahl kann beginnen. Kaum ist der erste Bissen im Mund, schrecken Oma und Tante Maria auf, kerzengerade und stocksteif sitzen sie jetzt, zeigen zum Fenster Richtung Garten. Mit aufgerissenen Augen und vollem Mund rufen sie irgendetwas auf Griechisch. Ich sehe nichts, weil ich dummerweise mit dem Rücken zum Fenster sitze. Vermute aber, dass soeben Satan höchstpersönlich erschienen ist, dem Anblick der aufgeregten Frauen nach zu urteilen. Opa zögert nicht, springt auf, eilt ins Nebenzimmer und kommt nach wenigen Sekunden zurück. Mit einem Gewehr in der Hand eilt er am gesegneten Mittagstisch vorbei in den Garten. Ich verschlucke mich fast und glotze ungläubig dem entschlossenen – ich schätze Mittsechziger – hinterher. Später erfahre ich (wir verständigen uns mit Hand und Fuß, Fetzen in Englisch, Französisch und Griechisch), dass nicht Satan sondern ein freilebender Hund am Gartenfenster erschienen ist. Der Hund sei ein Problem für die ganze Nachbarschaft. Er belle, beiße und fresse das Futter der eigenen Hunde. Opa hat ihn übrigens nicht mehr erwischt.
Der Rest des Mittagessens verläuft ohne weitere Zwischenfälle. Anschließend gibt es griechischen Kaffee, noch mehr Kekse und Süßigkeiten und die Familie gesellt sich vor den Fernseher. In den Nachrichten werden die Feierlichkeiten zum heutigen heiligen Tag der Theofaneia gezeigt. Am 06. Januar feiern die Griechen die Taufe Jesu Christi durch Johannes, eines ihrer wichtigsten kirchlichen Feste und ein mächtiges Spektakel. An diesem Tag verlegen die Gemeindepriester den Gottesdienst ans Wasser (an einen Fluss, See oder ans Meer). Dort wirft der Priester ein gesegnetes Kreuz in die Fluten. Ein bis zwei Dutzend gläubige Männer stehen am Ufer und springen ins kalte Wasser. Sie suchen das Kreuz und kämpfen dann darum. Wer es aus dem Wasser bergen kann gewinnt. Die 14jährige Despina frage ich auf Englisch: „Was gewinnen sie denn?“. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, findet sie meine Frage ziemlich dämlich. Knapp entegegnet sie: „Nichts!“
Nach dem Kaffee verabschiede ich mich in die Abgeschiedenheit des Busses und verbringe den Rest des Tages arbeitend. Nächste Woche treffe ich mich mit Nikos und Efi in Korinth. Und zwischendurch werde ich mich immer mal zu dem Hund gesellen. Die Woche bis zu Karstens Rückkehr wird sicherlich schnell vergehen. Auch wenn ich allein bin, einsam fühle ich mich im Moment noch nicht.
2 Kommentare zu Allein sein