Polí Cýpero und zwei junge Pakistaner in der Patsche

„Polí Cýpero, polí Cýpero“, wiederholt Theo und meint: “Leute, bin ich betrunken.“  Ouzo trinkt man hier offenbar schon lang nicht mehr. „Zuviel Chemie“, urteilt Theo, der schon vor 20 Jahren von dem milchigen Fusel abgelassen hat. Mir wird flau im Magen weil ich an das ein oder andere Glas Ouzo denken muss, dass ich als brave Touristin in den vergangenen zehn Tagen „genossen“ habe. Stattdessen trinkt Theo Cýpero. Keine Ahnung ob man das so schreibt. Ist aber auch egal, schließlich zählt der Inhalt. Er wird aus Trauben gewonnen, ist wunderbar mild und fruchtig, gleichzeitig hochprozentig. Wir würden Grappa dazu sagen. Ach so, und polí heißt übrigens „viel“.

Eigentlich waren wir gar nicht mit Theo sondern mit Anastasius verabredet. Anastasius lebt in der Nähe es Strandes, der seit nunmehr zehn Tagen unsere Wahlheimat ist. Er ist Fischer und Jäger und hatte uns am Nachmittag bestes selbstgepresstes Olivenöl und fünf Fische verkauft. Wir luden ihn zum Kaffee ein, zeigten uns gegenseitig Fotos und plauderten ein wenig – wenn man das „plaudern“ nennen kann. Mit Hand und Fuß eben. Er: „Ihr verheiratet?“. Wir „Óchi“ (=nein). Er: „Nächstes Jahr ihr kommen, verheiratet. Danach Jahr ihr kommen, Baby“. Wir bedankten uns artig für das Orakel und nahmen seinen Vorschlag an, uns abends um sieben in Jannis‘ Taverne – „sehr gut Essen“ – wieder zu sehen.

Karsten und ich haben dann irgendwie die Zeit verloren und trudelten erst um viertel vor Acht dort ein. Aufmerksam wurden wir von den rund 20 Männern im Lokal beobachtet, als wir eintraten und uns einen freien Tisch suchten. Das Lokalderby Athen – Tripolis im Fernsehen war für einen Moment uninteressant geworden, die Erscheinung aus Deutschland dafür umso interessanter. Anastasius war unter dem Publikum nicht auszumachen. Also bestellten wir erst einmal bei Jannis, dem Wirt. „Mia bíra, éna kókkino krassí ke neró“, (= ein Bier, ein Rotwein und Wasser) gab sich Karsten alle Mühe, das gerade erlernte Griechisch anzuwenden. Dass uns der Wirt verstand, merkten wir an seiner Antwort: „Mit Sprudel oder ohne?“. Damit rechnete ich nun überhaupt nicht und konterte mit einem eloquenten: „Häh!?“ Jannis wiederholte geduldig: „Mit Sprudel oder ohne?“ Nur seine leicht zuckenden Mundwinkel verrieten, dass meine ohnehin schon peinliche Entgegnung offensichtlich von einem noch dämlicheren Gesichtsausdruck begleitet worden war.

Wir aßen Suwlákia und Salat und hatten überhaupt nichts dagegen, dass sich die Aufmerksamkeit der Herren wieder von uns ab- und dem Fußballspiel zuwendete. Anastasius jedoch kam nicht. Nachdem wir aufgegessen hatten, sprach uns Theo vom Nebentisch an: „Anastasius went home. Sleeping. I am his brother.“ Der interessante Mann mit dem spitzbübischen Bart setzte sich zu uns, und im Handumdrehen war das Eis gebrochen. Er gab uns einen Ouzo und Rotwein aus. Wir ihm Cýpero. Und so weiter… Cýpero, Wein, Bier. Nur dann doch kein Ouzo mehr.

Theo ist Mathematiklehrer an der Schule in Kanallaki. Er hat sechs Brüder und zwei Schwestern, zwei sehr hübsche erwachsene Töchter und ein Haus in Valandoriachi. Er fischt und jagt. Und kommt uns im November 2012 in Aachen besuchen. Dann nämlich ist er pensioniert und will seinen Bruder in Hannover, seinen Neffen in Düsseldorf und seinen Freund in Paris besuchen. Karsten und ich fanden, dass Aachen hervorragend auf seine Reiseroute passen würde und luden ihn kurzerhand in unser noch nicht vorhandenes Zuhause ein. Das führte dann zu großer Freude bei allen Beteiligten, noch mehr Bier, Wein und Cýpero. Wir scherzten, lachten und klopften uns gegenseitig auf die Schulter. Was für eine nette Begegnung!

„Polí Cýpero, polí Cýpero“, wiederholt Theo. Wir sind die letzten Gäste im Lokal. Die Unterhaltung wird zunehmend schwierig aber nicht weniger lustig. Ich zücke unser OhneWörterbuch und wir beginnen die Bilder von Schafen, Schweinen, Kiwis und Bananen in Worte zu fassen. Jeder in seiner Sprache. Karsten und ich lachen über den Klang der griechischen Begriffe und versuchen sie auszusprechen. Theo lacht über die deutschen Wörter und gibt sich alle Mühe, sie zu sagen. Und Jannis, der Wirt, lacht über uns.

Die Szenerie unterbricht jäh, als sich die Tür öffnet. Zwei junge Männer – ich schätze sie auf Mitte zwanzig – betreten den Raum. Sichtlich erschöpft. Ich bin zwar schon sehr betrunken, befinde die Beiden aber trotzdem als für Griechen bemerkenswert dunkelhäutig, mit etwas zu markanten Gesichtszügen. Kein Wunder, sie sind nämlich gar keine Griechen. Die beiden kommen eigentlich aus Islamabad, Pakistan. Und stecken offensichtlich gerade ziemlich in der Patsche. Sie müssen noch 50 Kilometer bis Preveza fahren, ihr Benzin reicht nur nicht mehr für die Strecke. Jannis und Theo rufen kurzerhand den lokalen Tankwart an. Der vermeintliche Retter geht aber nicht ans Telefon. Das war´s dann wohl. Kein Kraftstoff vor morgen früh.

Karsten lehnt sich zu mir rüber: „Ich sehe doppelt“. Ich entgegne: „Nein, das sind wirklich Zwei.“ Diese Bestätigung scheint Karsten glauben zu lassen, er sei doch nüchterner als er eigentlich dachte. Er beschließt einzuschreiten und bietet den beiden wirklich zerknirscht dreinblickenden Jungs an, zehn Liter von unserem Bus abzuzapfen. Er gestikuliert dabei auf beeindruckende Weise, dass das Benzin aus unserem Tank mit dem Schlauch angesaugt werden müsse.

Die Jungs lassen sich auf die beiden betrunkenen „Turistas“ ein. Wir verabschieden uns herzlich von Jannis und Theo und schwingen uns auf unsere Fahrräder. Die beiden Pakistaner in ihrem Auto hinter uns her. Bis zum Strand sind es etwa drei Kilometer, auf Feldwegen. Aber nach schon 150 Metern folgt ein unfreiwilliger Zwischenstopp: Ich verschalte mich, was meine Gangschaltung das Zeitliche segnen lässt. Die Räder blockieren, an Weiterfahrt ist nicht zu denken. Das Auto hält und die beiden Kollegen denken pragmatisch – nur keine Zeit verlieren. Sie packen das Fahrrad in den Kofferraum und bieten mir Platz auf dem Beifahrersitz an.

Am Bus angekommen geht dann alles ganz schnell. Karsten holt Kanister und Schlauch. Und ich bin in Gedanken bereits beim bevorstehenden Ansaugprozess. Als ich mich entschließe, Karsten in den nächsten fünf bis sieben Tagen dann eben nicht zu küssen, macht einer der beiden Jungs kurzen Prozess: Ein Schlauchende kommt in den Tank, das andere in seinen Mund. Und jetzt saugen. Das Benzin läuft vorbildlich erst in seinen Mund, dann in den Kanister hinein. Obwohl ich nicht vorhabe den Pakistaner zu küssen, reiche ich ihm schnell ein Glas Wasser zum Spülen. Aus reiner Nettigkeit. Zehn Minuten später sehen wir in zwei wirklich dankbare und erleichterte Gesichter. Wir lehnen Geld ab und verabschieden uns.

Gemeinsam mit unserer adoptierten Kirke und einer guten Hand voll Brekkis lassen wir den geselligen Abend im Strandstuhl noch einmal Revue passieren. Wir freuen uns wirklich sehr über die herzliche Offenheit und Gastfreundschaft der Menschen, die uns hier begegnen. Und wir freuen uns auch, dass wir den beiden jungen Pakistanern ein bisschen davon zurückgeben konnten. Nur mit dem Cýpero sollten wir in Zukunft vielleicht doch ein wenig zurückhaltender sein.

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