Romania revisited

Dies ist das sechste Mal, dass ich dieses Land bereise. Zuletzt war ich 2003 in Rumänien. Seit meinem ersten Besuch 1994 hatte sich bis 2003 spürbar etwas verändert: Giftige Industrieanlagen wurden abgestellt, die Transitstrecken wurden erneuert, streunende Hunderudel in den Städten wurden entfernt. Doch in den letzten neun Jahren ist die positive Entwicklung offenbar stehengeblieben. Die Nebenstaßen sind noch immer Stoßdämpferteststrecken mit tiefen Schlaglöchern. Uns reißen ständig die Spanngurte am Motorrad. Sämtliche Bahnübergänge sind noch immer nicht erneuert, so dass man diese selbst auf vierspurigen Schnellstraßen im 1. Gang überqueren muss. Die Anzahl der Pferdewagen auf der Straße ist konstant geblieben. Äcker werden in vielen Teilen des Landes noch mit der Hand oder mit dem Vieh bestellt. Selbst in reichen Städten wie Brasov trifft man noch auf bettelnde Straßenkinder und Rentner.

Die Armut der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft trifft mich tief, insbesondere wenn die einzige von außen sichtbare Veränderung in den letzten neun Jahren die wachsende Anzahl der Luxusschlitten auf den Straßen und die Ausbreitung von deutschen Supermarkt- und Baumarktketten zu sein scheint. Seit der Wende sind nunmehr 23 Jahre vergangen und seit dem EU-Beitritt mehr als fünf Jahre. Selbst in Albanien war die Armut der unteren Gesellschaftsschicht nicht so sichtbar wie in Rumänien. Was ist denn bloß los mit diesem Land? Kennen die Rumänen den Fahrstuhleffekt nicht?

Vielleicht liegt es daran, dass sich durch die Bevölkerung mehrere Risse ziehen, die sich nicht einfach mit Demokratie, Marktwirtschaft und ein paar EU-Förderungen kitten lassen. Da ist zunächst der bereits historische Gegensatz der Land- und Stadtbevölkerung. Mit einem Beitrag von 16 % zum Bruttosozialprodukt ist Rumänien im Vergleich zu Deutschland (0,9 %) noch ein Agrarland. Die Städter identifizieren sich jedoch nicht mit der hautpsächlich in Subsistenzwirtschaft dahindümpelnden Landbevölkerung, sondern empfinden diese als Klotz am Bein bei der Entwicklung des Landes. Doch ein Bauer, der ein kleines Haus, einen Pferdewagen, zwei Kühe und ein paar Hühner sein Eigen nennt, hat keine Ahnung, wie man ein EU-Projekt beantragt. Und so werden die Pferdewagen noch lange zum Straßenbild des Landes gehören.

Einen weiteren Riss kann man im Umgang der Rumänen mit ethnischen Minderheiten und dessen mangelnder Aufarbeitung sehen. Vor dem zweiten Weltkrieg lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung noch bei 4,5 %. Doch Rumänien als faschistisches Land in den 30er und 40er Jahren des 20. Jhdts. und als Verbündeter Nazideutschlands bis zum Schwenk zu den Alliierten 1944 hat die Vernichtung von knapp 300.000 Juden in zum Teil grausigen Pogromen zu verantworten. Wer weiß eigentlich in Europa vom rumänischen Holocaust? Die Aufarbeitung in Rumänien selbst ist schleppend und widersprüchlich, was nicht zuletzt an Beteiligungen von rechten Parteien an Regierungskoalitionen nach der Wende 1989 liegt.

Der problematische Umgang mit Minderheiten zieht sich fort in der systematischen Vertreibung der Siebenbürger Sachsen nach dem 2. Weltkrieg und der Situation der ungarischen Minderheit und der Roma in der heutigen Zeit. Derartige Wunden in der eigenen Geschichte und Gesellschaftsstruktur heilen nicht durch Wegkucken und wirtschaftlichen Aufstieg einer elitären Klasse. Wenn es Rumänien nicht gelingt, seine ethnisch begründeten Grenzen aufzuweichen, bleibt auch in einem Land, das mit 781 Euro Durchschnittseinkommen doppelt so „reich“ ist wie Bulgarien (316 Euro), die Armut der unteren Bevölkerungsschicht noch lange sichtbar.

     

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Rumänien abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Ein Kommentar zu Romania revisited

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.