Boah, Bulgaristan

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das Land, dem wir am wenigsten Interesse gewidmet hatten, sich so wundervoll präsentiert. Bulgaristan nennen es die Türken. Das Land mit dem niedrigsten monatlichen Durchschnittseinkommen der EU (316 Euro), nennt es unser Reiseführer. Wir nennen es das Land mit dem wohl bisher schönsten Standplatz auf unserer Reise und überaus netten und gelassenen Menschen.

Doch der Reihe nach. Nachdem wir etwas genauer die Route über die alte Heerstraße von Georgien nach Russland studiert hatten, mussten wir feststellen, dass sie durch Nordossetien und wahlweise Inguschetien oder Kabardino-Balkarien führt. Diese russischen Teilrepubliken befinden sich im nordkaukasischen Krisengebiet, von dessen Bereisung das deutsche Auswärtige Amt aufgrund von Gewaltkriminalität, Terrorakten und Entführungen dringend abrät. Die Strecke durch dieses Gebiet beträgt rund 200 km. Wir dachten kurz darüber nach, es bei Tag mit vollem Tank und am besten im Anhang eines Konvois von Lkws, die wir an der Grenze anzutreffen hofften, zu versuchen. Doch der häufige Kontakt in der Türkei mit Polizisten und Jendarmas mit der Maschinenpistole im Anschlag gab uns eine Vorstellung, wie wir auf Freischärler oder einfach Verbrecher mit ähnlicher Bewaffnung reagieren würden. Nach näherer Überlegung denke ich, dass es nicht ausreicht, sämtliche Filme von Charles Bronson oder Clint Eastwood gesehen zu haben, um sich aus einer derartigen Situation selbständig zu befreien, ohne zumindest sein ganzes Hab und Gut abzutreten. Die Alternative, eine Fähre ohne Fahrplan von Aserbaidschan nach Kasachstan mit ungeahnten Kosten für Korruption und Gebühren, für die uns als Westeuropäer die Phantasie fehlt, befanden wir ebenfalls als zu unsicher.

Es blieb uns also nur, die Fähre von Istanbul in die Ukraine zu nehmen oder einfach unseren ursprünglichen Reiseplan über Bulgarien und Rumänien fortzusetzen. Mit dem positiven Titertest sowie einem 30 Euro teuren zusätzlichen Dokument des türkischen Gesundheitsministeriums in der Tasche, das nichts anderes bestätigte, als dass wir einen Titertest gemacht hatten, setzte ich mich gegen Sylvias Bedenken durch, wissentlich gegen EU-Gesetze zu verstoßen und ohne dreimonatige Wartezeit nach Bulgarien einzureisen. Was konnte schon passieren, außer dass man uns nicht hinein lässt?

Bei der Ausreise aus der Türkei wurde zunächst unser Anhänger mit dem Motorrad mehrfach in einer riesigen Halle geröntgt. Nur Allah weiß, was die Zollbeamten damit entdecken wollten. Leider konnte ich es auch nicht von den Beamten erfahren, da sie kaum ein Wort Englisch sprachen. Seitdem wir auf unserer Reise Grenzen übertreten, frage ich mich, warum bei der Einstellung von Grenzbeamten nicht darauf geachtet wird, dass diese der englischen Sprache mächtig sind.

Dann kamen wir zu den bulgarischen Kontrollen. An der ersten Schranke mussten wir unsere Pässe vorzeigen. Den Hundeausweis wollte die Beamtin gar nicht sehen. An der zweiten Kontrolle warf die zuständige Grenzbeamtin tatsächlich einen flüchtigen Blick in den Hundepass, gab ihn uns aber ohne Kommentar zurück. An der dritten Barriere, der Zollkontrolle, zeigten wir Loukas EU-Pass vor. Der Zollbeamte sah ihn nur von außen an, nickte und winkte uns durch. Dann waren wir in Bulgarien. Weder den Titertest noch das inhaltlich überflüssige Gesundheitszeugnis des Ministeriums haben wir benötigt.

In Bulgarien bogen wir nach der Grenze links ab in Richtung eines Stausees, an dem wir uns nach einem schönen Platz für die Nacht umsehen wollten. Unterwegs entdeckten wir in einem kleinen Ort einen nagelneuen Penny-Markt. Ich fragte eine Verkäuferin, die gerade vor dem Geschäft eine Zigarette rauchte, nach einem Bankautomaten. Als sie antwortete, lächelte sie mich an. Ein derartiges Detail weiß man erst zu schätzen, wenn man fünf Wochen in der Türkei verbracht hat. Eine Frau lächelt einen Mann an, einfach so, aus Freundlichkeit. Europa hatte uns wieder.

Am Stausee angelangt stellten wir uns an einen Platz, der so schön war, dass wir damit rechneten, innerhalb von wenigen Stunden vertrieben oder am Wochenende von einer Schar von lokalen Freizeitaktivisten überrollt zu werden. Storche campierten hier neben unserem Bus und Fische hüpften durch das Wasser.

     

     

Tatsächlich tauchten in der Dunkelheit – wir hatten gerade unseren zweiten Gin Tonic geleert – zwei Offizielle in einem Lada Geländewagen auf. Sie eröffneten das Gespräch auf Bulgarisch. Ich fragte sie: „Do you speak English?“ Nach einer dramatischen Pause, in der sich der Wortführer im Nacken kratzte, kam die Antwort: „No.“ Und dann die Gegenfrage: „Picknick?“ Wir: „Yes. Problem?“ – „No. No problem. Fish?“ Es stellte sich heraus, dass die zwei von der Fischereibehörde waren und kontrollierten, ob wir verbotenerweise fischten. Als sie sahen, dass wir offensichtlich nicht angelten, zogen sie wieder ab.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, als Sylvia gerade mit dem Hund spazieren war, tauchte ein Auto mit einem älteren Mann, zwei Männern um die 40, zwei kleinen Mädchen und zwei Hunden auf. Die jüngeren Männer holten ein Schlauchboot vom Autodach und spielten mit den Kindern im Wasser. Dabei trugen sie nur ihre Unterhosen, während die Mädchen vollkommen nackt waren. Auch so ein Detail, das man erst nach einem längeren Aufenthalt in der Türkei erwähnenswert befindet. Der ältere Mann nahm Kontakt mit mir durch das geöffnete Fenster unseres Busses auf. Er nahm dabei keinen Anstoß daran, dass ich nur in Unterhose auf dem Bett lag. Er erblickte die angebrochene Flasche Gin, und ich bot ihm einen Schluck an, den er bereitwillig annahm.

Abends tauchte ein Teil der Truppe wieder in einem alten Trabbi auf.

     

Mein Dragonfly hatte nur darauf gewartet, in die Hände spielender Kinder zu geraten.

Wir verbrachten die folgenden Tage damit, einen Steinkreis der Thraker und das antike Perperikon zu besuchen.

     

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Bulgarien abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Kommentare zu Boah, Bulgaristan

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.