Heute ist Halbzeit

Wir haben heute Halbzeit – ein halbes Jahr ist rum. Wie fühle ich mich nach sechs Monaten? Wie wird es sein, ab sofort mehr Reise hinter mir als noch vor mir zu haben?

Sechs Monate sind nicht immer sechs Monate: Ich erinnere mich gut daran, wie schnell sechs Monate vor der Reise vorbei gingen. Die Zeit verschwamm vor meinen Augen, bestand nur noch aus Wochenanfang und Wochenende, Urlaubsanfang und Urlaubsende, Winteranfang – oh schon wieder Weihnachten! Auf der Reise vergeht die Zeit langsamer. Jeder Tag ist intensiv, neu, überraschend. Jeden Morgen kann ich neu entscheiden, wie ich den Tag füllen will. Ich habe den Eindruck, schon ewig unterwegs zu sein. Würde jemand behaupten, ich sei schon seit zwei Jahren auf Achse, könnte ich es glauben. Ich freue mich auf weitere sechs Monate der Reise. Das Glas ist definitiv halb voll.

Gedanken über das Zurückkehren: Ja, die hab ich. Wie werden wir wohnen? Wo werde ich arbeiten? In meinen Gedanken male ich mir Bilder. Und ich freue mich darauf, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Aber erst in sechs Monaten.

Ich vermisse Freunde und Familie: Mir fehlt der intensive Austausch mit vertrauten Menschen. Emails können den direkten Kontakt nicht ersetzen. Auch nicht das Telefon. Es passieren große Dinge, die ich nur getippt erfahre: Mein Patenkind Lisa macht ihre ersten Schritte, Barbara und Stewart bekommen einen Jungen, meine „kleine“ Schwester Janine zieht mit ihrem Freund zusammen. Und es geht wenig über einen rotweingeschwängerten Abend mit einer lieben Freundin und 1001 Themen die die Welt (und vor allem uns) bewegen. Für die Zeit der Reise muss ich darauf verzichten, gewinne jedoch Begegnungen mit anderen Menschen, Ideen und alternative Lebenskonzepte.

Komfort – oder an was ich mich alles gewöhnen kann: Zu zweit auf sechs Quadratmetern, ein Klo das man ausleeren muss, das Meer als Badewanne und zwei Hände als Waschmaschine. Es ist schon erstaunlich, an was ich mich alles gewöhnen kann. Erstaunlich ist auch, wie wenig wir eigentlich zum Leben brauchen. Ich ängstige mich ein wenig vor dem Berg Hausrat und Klamotten, der derzeit Evas und Peters Keller füllt. Wofür brauche ich zwölf Paar Schuhe, wenn ich immer nur ein Paar tragen kann? An was ich mich fast täglich voller Entzücken erinnere, ist übrigens meine Spülmaschine.

Haben wir bisher genug erlebt? Manchmal wache ich morgens auf und bekomme so etwas wie Panik. Habe ich die Zeit intensiv genug genutzt? Habe ich genug erlebt? Genug gesehen? Hätte ich nicht noch dieses Museum, jene Moschee mitnehmen müssen, um ein ganzheitliches Bild zu bekommen? Dann erinnere ich mich an die letzten Wochen, Monate und weiß: Viel mehr Eindrücke kann ich kaum verpacken.

Reif für Kasachstan. Ich bin aufgeregt und freue mich auf die Reiseziele unseres zweiten Halbjahrs.

Erlebnisse die das Leben prägen: Etwa fünf Tage vor unserer Abreise war ich noch bei meiner russischen Schneiderin in der Lothringerstraße in Aachen (gegenüber Alfonsstraße). Ich holte unsere geflickten Sitzpolster-Bezüge ab. Als ich ihr erzählte was wir vorhaben, blickte sie mich von ihrer Nähmaschine aus über ihre goldenen Brillenränder an. Wie eine Wahrsagerin flüsterte sie geheimnisvoll: „Herzlichen Glückwunsch. Damit haben Sie ihr Leben gerettet. Die Erlebnisse und Erinnerungen kann Ihnen niemand mehr nehmen. Sie werden ihr Leben lang davon zehren.“ Die Heftigkeit ihrer Reaktion irritierte mich und machte mir Gänsehaut. Heute weiß ich, dass sie Recht hatte. Auch als Schneiderin kann ich sie übrigens sehr empfehlen: Sie arbeitet sorgfältig, zuverlässig und ist günstig.

Als Resümee kann ich sagen: Dieses Jahr der Auszeit und Reise war eine der besonders guten Entscheidungen in meinem Leben. Ich würde es immer wieder genauso machen, wenn ich nochmal wählen könnte.

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