Es ist der 21. Dezember, der dunkelste Tag des Jahres, auch in metaphorischer Hinsicht. Seit ungefähr einer Woche regnet und gewittert es von Tag zu Tag mehr und intensiver. Die Temperaturen fallen nachts auf ein paar Grad über Null. Auf den Gipfeln der stets nicht weit entfernten Berge ist dünner Neuschnee zu erkennen, und ich bekomme langsam einen Buskoller. Die Enge unseres Wohnklos und die Unmöglichkeit, sich länger draußen aufzuhalten, machen mich klaustrophobisch. Das Reisen bringt zwar Abwechslung, aber auch erneuten Stress. Es macht einfach keinen Spaß, mit dem Gespann bei strömenden Regen im hektischen Vorweihnachtsverkehr durch enge Gassen zu gurken, um ein antikes römisches Theater zu suchen, an dem man dann doch nicht parken kann. Oder wie ein Trüffelschwein mit Internetrecherchen, Ausfragen von Tankstellenwärtern und Navigationssystem nach einer der drei LPG-Tankstellen auf dem Peleponnes zu fahnden und diese dann doch nicht zu finden. Jetzt fahren wir notgedrungen auf Benzin. Das ist nicht nur doppelt so teuer wie Gas, sondern stinkt auch und lässt den Motor im Standgas ständig ausgehen, weil dieses auf LPG eingestellt ist. Da wir durch die kurzen Tage meistens erst im Dunkeln an unseren Zielorten ankommen, ist die Suche nach geeigneten Standplätzen nicht einfach. Das alles drückt die allgemeine Stimmung auf unserer Mission.
Doch auch im übertragenen Sinne ist der heutige Tag der dunkelste. Die Nachrichten aus der Heimat in den letzten Wochen haben ein immer düsteres Szenario gezeichnet. Vor vier Wochen hatte mein Vater trotz eingebauten Defibrillators einen weiteren Herzstillstand. Die Wiederbelebungsmaßnahmen dauerten 20 Minuten. Vor zwei Wochen wurde deutlich, dass er davon einen Hirnschaden erlitten hat und nach dem erneuten Aufwecken aus dem künstlichen Koma nicht mehr ansprechbar ist. Heute habe ich erfahren, dass er von der Intensivstation im Krankenhaus in Mülheim in ein Pflegeheim nach Essen verlegt wird. Er wird weiterhin künstlich beatmet und zeigt keine bewussten Reaktionen. Da er keine Patientenverfügung abgeschlossen hat, wäre ein Abstellen der lebenserhaltenden Maßnahmen jetzt Sterbehilfe. Dieser Schwebezustand zwischen Leben und Tod macht es schwer, einen Umgang mit der Situation zu finden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er noch einmal so etwas wie ein Bewusstsein erlangt. So gesehen war der Augenblick vor sechs Wochen in Mülheim, als ich ihn noch einmal kurz halbwach erleben durfte und seine Hand gedrückt habe, eine Art Abschied. Aber was heißt Abschied, wenn er noch lebt? Es kann noch Jahre dauern, bis er tatsächlich stirbt.
Unbekannt ist mir die Situation nicht, da meine Mutter vor 11 Jahren auf ähnliche Weise aus dem Leben getreten ist. Durch ihre Erkrankung an Multiple Sklerose wurde auch sie zu einem Pflegefall. Im Endstadium war die Krankheit soweit fortgeschritten, dass Hirnschäden eintraten und sie nicht mehr ansprechbar war. Damals wie heute ziehe ich es vor, die Geschehnisse aus der Ferne zu beobachten. Damals wie heute habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Die räumliche und emotionale Distanz ist jedoch seit meinem Fortgang aus Mülheim im Alter von 21 Jahren, als der Rosenkrieg meiner Eltern bereits zehn Jahre andauerte, bis heute für mich eine wirksame Methode geblieben, mit familiären Ausnahmesituationen umzugehen. Ich hatte immer das starke Gefühl, dass ich die innere Zerrissenheit, die ich seit den traumatischen Erlebnissen durch die Trennung und durch das Verhalten meiner Eltern danach verspürte, nur selber wieder heilen konnte. Die Distanz zu allem, was ich mit diesen Erlebnissen verband – Familie, Heimatstadt, ehemalige Mitschüler etc. –, war dabei ein brauchbares Mittel. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Ich vermute, ich konnte so die Wirkung der Erlebnisse emotional entzerren und gleichzeitig meine Autonomie und Selbstbestimmtheit stärken. Der Nachteil dieser Distanz beim Tod meiner Mutter war, dass echte Trauer bei mir teilweise erst Jahre später eingetreten ist. Ich richte mich darauf ein, dass dies bei meinem Vater ähnlich ablaufen wird.
Werden die Tage nach der Wintersonnenwende nicht wieder länger? Ich hoffe es zumindest.